Ausgabe 4/2019, Oktober

WIdO-Themen

Krankheitslast in den Regionen Deutschlands

Wie gesund sind die Menschen in den Regionen Deutschlands? Im Projekt BURDEN 2020 soll mithilfe eines ganzheitlichen Konzepts zur Messung der Krankheitslast  für die in Deutschland lebende Bevölkerung untersucht werden, welchen Anteil einzelne Erkrankungen an den durch Tod verlorenen oder mit gesundheitlicher Beeinträchtigung verbrachten Lebensjahren haben.

Das Projekt BURDEN 2020, gefördert vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses, wird zusammen vom Robert Koch-Institut, dem Umwelt- bundesamt und dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) durchgeführt. Es knüpft an die internationale Global-Burden-of-Disease-Studie (GBD) an, die seit 1992 regelmäßig die Häufigkeit von Krankheiten und Todesfällen sowie die Bedeutung von Risikofaktoren wie Lebensstil oder Umweltbelastungen beziffert. BURDEN 2020 ermittelt die Krankheitslast für die Regionen in Deutschland, zunächst für eine Auswahl von überwiegend nicht übertragbaren Krankheiten. Wie in der GBD-Studie wird dabei eine Maßzahl (DALYs, also disability adjusted life years) verwendet, die sowohl verlorene als auch gesundheitlich beeinträchtigte Lebensjahre berücksichtigt.

Im Rahmen von BURDEN 2020 werden verschiedene Datenquellen wie amtliche Statistiken, Register-, Befragungs-, Routine- und Umweltdaten in einem Rechenwerk so aufbereitet, dass ein transparentes Informationssystem für die Regionen Deutschlands entsteht. Eine methodische Herausforderung stellt die Nutzung von kassenartenspezifischen Routinedaten dar, mit denen Aussagen über alle Einwohner Deutschlands getroffen werden sollen. Im Rahmen einer Forschungskooperation kommt erstmals ein alters-, geschlechts- und morbiditätsadjustierendes Hochrechnungsverfahren zum Einsatz, das das WIdO in Zusammenarbeit mit der Universität Trier entwickelt hat. Es gleicht die AOK-spezifischen Unterschiede hinsichtlich der Erkrankungshäufigkeit der Versicherten gegenüber der regionalen Wohnbevölkerung aus. Mit dem neuen Verfahren lassen sich damit auf Basis der vorliegenden Krankenkassen-Routinedaten auch kleinräumige Unterschiede der Krankheitshäufigkeit in der Bevölkerung zuverlässig darstellen. Als Ergebnis von BURDEN 2020 wird für Deutschland und seine Regionen ein neues, gesundheitsbezogenes Rechensystem zur Verfügung stehen, das es erlaubt, ein umfassendes Bild der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung in den Regionen zu zeichnen. Die Krankheitslastberechnung ermöglicht Prognosen oder auch Aussagen darüber, welche Ansätze und gesundheitspolitischen Maßnahmen zur Prävention und Versorgung von Krankheiten den größten Nutzen für die Bevölkerung versprechen.

Gabriela Brückner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsbereichs
Gesundheitspolitik/Systemanalysen im WIdO

„Mit den Ergebnissen von BURDEN 2020 kann die regionale Planung von Präventionsangeboten und Versorgungsstrukturen unterstützt werden.“

Gabriela Brückner, Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsbereichs Gesundheitspolitik/Systemanalysen im WIdO

Mehr Risiken in Kliniken mit wenigen Operationen

Beim Austausch einer Hüftprothese sind Komplikationen keine Seltenheit. Eine Studie des WIdO ergab nun: Je häufiger ein solcher Prothesenwechsel in einer Klinik durchgeführt wird, desto seltener kommt es zu Komplikationen und Todesfällen.

Im Jahr 2017 wurden in mehr als 1.100 Kliniken in Deutschland insgesamt rund 27.000 Hüftprothesen gewechselt. Nach Angaben des Instituts für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen fanden in 737 Kliniken weniger als 20 Operationen im Jahr statt, also weniger als zwei pro Monat. Der Wechsel eines künstlichen Hüftgelenks ist ein komplexer medizinischer Eingriff, der operative Erfahrung und spezielle medizinische Logistik erfordert. Da sich nach dem Entfernen der alten Prothese das neue Implantat häufig nicht gut verankern lässt, ist die Operation deutlich komplikationsträchtiger als der Ersteingriff. Für die Erstimplantation von Hüft- und Kniegelenksprothesen ist belegt, dass bei höheren Fallzahlen weniger Komplikationen auftreten. Beim Totalersatz des Kniegelenks gilt darum in Deutschland eine Mindestmenge von 50 Eingriffen pro Jahr. Für den Hüftprothesenwechsel liegen in der Literatur kaum Daten vor.

Das WIdO hat nun eine Studie zum Zusammenhang von Fallzahl und Qualität bei Hüftprothesenwechsel durchgeführt und im Journal of Arthroplasty publiziert. In die Sekundärdatenanalyse wurden insgesamt 17.773 Wechsel-OPs bei 16.376 AOK-Patienten eingeschlossen, die nicht durch eine Fraktur oder Infektion bedingt waren und zwischen Januar 2014 bis Dezember 2016 durchgeführt wurden. Innerhalb von 90 Tagen nach dem Eingriff verstarben 2,6 Prozent der Patienten; bei jeder siebten Operation musste binnen zwölf Monaten erneut operiert  werden.  In den AOK-Abrechnungsdaten zeigte sich, dass eine geringere Anzahl an Operationen pro Klinik mit einer höheren 90-Tages-Sterblichkeit und einer höheren Ein-Jahres-Revisionsrate assoziiert war. Verglichen mit Kliniken mit mindestens 53 Fällen pro Jahr war das Risiko zu versterben in Kliniken mit zwölf oder weniger Fällen 2,1-fach  erhöht; das Risiko für eine Revision war um den Faktor  1,3 höher. Auch in Kliniken mit 13 bis 24 Eingriffen pro Jahr waren die Komplikationsraten erhöht.

Der Hüftprothesenwechsel ist ein gut planbarer Eingriff, für den man in Ruhe eine geeignete Klinik aussuchen kann. Die Studie legt nahe, dass ein Hüftprothesenwechsel in Kliniken mit höheren Fallzahlen seltener mit Komplikationen verbunden ist und daher in spezialisierten Zentren erfolgen sollte. Die Fallzahlen von AOK-Patienten mit Hüftprothesenwechsel in den einzelnen deutschen Krankenhäusern einschließlich der Komplikationsraten werden ab Oktober 2019 im Webportal AOK-Krankenhausnavigator veröffentlicht. Dort finden Patienten bereits Klinikergebnisse zu acht Operationen, für die das WIdO rund 800.000 Eingriffe in den Jahren 2015 bis 2017 ausgewertet und bis Ende 2018 nachbeobachtet hat.

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Analysen – Schwerpunkt: Ambulante Versorgung

Die Weiterentwicklung der Vergütung der ambulanten ärztlichen Versorgung

Anke Walendzik und Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen

Die ambulante ärztliche Versorgungals zentrales Element der gesamten medizinischen Versorgung ist vielfach entscheidend im Sinne einer Weichenstellung für oder gegen eine koordinierte sektorenübergreifende Behandlung von Patienten. Ein wesentlicher Ansatzpunkt zur Steuerung der ambulanten ärztlichen Versorgung stellt das Vergütungssystem in seinen Anreizwirkungen dar. Die aktuelle Vielfalt der ambulanten Vergütungssysteme wirkt nicht in Richtung einer bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Versorgung. Der Artikel diskutiert als Alternative ein gemeinsames Vergütungssystem für ambulante und ambulant erbringbare ärztliche Leistungen für Leistungserbringer aus allen Sektoren. Hierbei werden der Leistungsrahmen, der Mix der verwendeten Vergütungsformen, die Art der Kalkulation der Gebührenordnungspositionen, die Vergütung adressaten, die Fragen der Budgetierung und des Zugangs zu Innovationen untersucht.

Internationale Perspektive auf Teamarbeit in der Primärversorgung

Markus Herrmann, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, und Kerstin Hämel, Universität Bielefeld

International lässt sich eine zunehmende Tendenz zur Reform der Primärversorgung beobachten. Die Organisation in multiprofessionellen Teams spielt dabei eine große Rolle, gerade auch im ländlichen Bereich, um den Anforderungen einer älter und multimorbider werdenden Gesellschaft gerecht zu werden. Am Beispiel von Neuseeland und Spanien werden diese neuen Entwicklungen aufgezeigt. Anschließend werden Erfahrungen in der Konzeptentwicklung eines kommunal eingebundenen Gesundheitszentrums in Sachsen-Anhalt dargestellt, das eine patientenzentrierte, kontinuierliche Versorgung auf der Basis eines multiprofessionellen Teams aus Gesundheits- sowie Sozialberufen auf Augenhöhe bieten soll. Abschließend wird summiert, welche nächsten Schritte für die Entwicklung multiprofessioneller Primärversorgung in Deutschland erforderlich sind.

Die Sicherstellung der ambulanten Versorgung in stationären Pflegeeinrichtungen

Miriam Räker, Wissenschaftliches Institut der AOK, Berlin

Die ärztliche Versorgung von Pflegebedürftigenin stationären Pflegeeinrichtungen stellt alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen. Grund dafür sind neben der hohen Morbidität und den spezifischen Versorgungsbedarfen der Pflegebedürftigen auch die gegebenen Versorgungsstrukturen. Im Fokus steht dabei neben dem derzeit vielfach konstatierten Pflegenotstand die haus- und fachärztliche Betreuung. Trotz unterschiedlicher Reformbemühungen sowie der Einführung von § 119b SGB V im Jahr 2008 zur ambulanten Behandlung in stationären Einrichtungen bestehen weiterhin Versorgungsdefizite mit starker regionaler Varianz. Kritisch zu hinterfragen ist, ob durch die bestehenden Versorgungsstrukturen eine bedarfsgerechte ärztliche Versorgung von stationär Gepflegten sichergestellt werden kann und welche möglichen Stellschrauben zum Nach- oder Neujustieren zur Verfügung stehen. Es zeigt sich, dass der Status quo stärker denn je zu hinterfragen ist und systematische Lösungen mit höherer Verbindlichkeit als bisher erforderlich sind.